Von Heinz Gstrein
Nach Informationen aus Ankara liegt die „Akte Gülen“ schon am Schreibtisch des gewählten US-Präsidenten Donald Trump. Recep Tayyip Erdogan macht sich Hoffnungen, dass die amerikanische Justiz unter dem neuen Boss im Weißen Haus das türkische Auslieferungsbegehren für jenen Mann erfüllen wird, den der Machthaber am Bosporus zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt hat: Fethullah Gülen, genannt auch „Hodscha Effendi“.
Seit dem gescheiterten Umsturzversuch vom 15. Juli 2016 verfolgt Erdogan die islamische Sondergruppe „Hizmet“ (Dienst) und fordert von den USA die Auslieferung ihres Gründers und Leiters Gülen. Er macht ihn und seine Organisation direkt für den Putsch verantwortlich. In den Jahren zwischen 1994 und 2009 war Gülen jedoch eine Art Chefideologe von Erdogans vorgeblich islamisch-demokratischer Politik. Dann fiel er in Ungnade, wurde kritisiert, jetzt sogar zur Verhaftung ausgeschrieben.
Fethullah Gülen erblickte 1941 in der Ostttürkei als Sohn eines Moscheepredigers das Licht der Welt. In Erzurum schloss er sich während seiner Ausbildung zum Mocheevorsteher (Imam) der „Lichtbewegung“ (Nurculuk) von Said Nursi an, eines osmanisch-kurdischen Mystikers (1884-1960), den die moderne Türkei anfangs geehrt, dann aber umso mehr verfolgt hat. Said Nursis Lehren sind in 14 Büchern dargelegt, die etwa 6000 Seiten umfassen und in ihrer Gesamtheit Risale-i Nur genannt werden, „Botschaft vom Licht“. Diese weist einen persönlichen Weg zu Gott, fordert aber genauso die Trennung von Politik und Religion sowie demokratische Staatswesen.
1959 erhielt Gülen seinen ersten Posten als Imam in Edirne (Adrianopel). 1966 wurde er nach Izmir (Smyrna) versetzt, wo er Nursis Lehren in die Praxis umzusetzen begann. Einfluss übte auf ihn auch der islamische Modernismus der vorletzten Jahrhundertwende aus. So der Ägypter Muhammad Abdu mit seiner Parole: “Besser Schulen bauen als Moscheen“. Gülen und seine ersten Anhänger begannen damit, in der Türkei Islam-Schulen zu gründen. Im Dezember 1984 ging er damit groß an die Öffentlichkeit. Für die Laizisten im Sinn von Atatürk und seinem areligiösen Bildungswesen, das damals die Türkei dominierte. war das ein provokativer Rückschritt.
Nach der Wende im Ostblock kamen Schulen in der ehemaligen Sowjetunion hinzu, auf dem Balkan, aber auch in Westeuropa. Durch Predigtreisen wuchs Gülens Anhängerschaft stark, besonders unter Ober- und Hochschülern, die er inhaltlich gezielt ansprach. Damals entstand auch der Name Hizmet (Dienst) als Dienstleistung zur Erziehung und Bildung der türkischen Jugend.
Gülen hatte schon 1981 die Moschee-Predigertätigkeit im Staatsdienst aufgegeben und widmete sich ganz seiner Bewegung, veröffentlichte zahlreiche Programmschriften. 1996 schrieb er in „Der Prophet Muhammad – Das grenzenlose Licht“ über die Bedeutung des Islam für alle Lebensbereiche: „Deshalb hat der Prophet Muhammad der Bildung, dem Handel und der Landwirtschaft, praktischer wie geistiger Betätigung die richtige Bedeutung beigemessen und seine Anhänger ermutigt, alles, was sie unternehmen, perfekt zu machen. Er hat Faulheit und Bettelei verurteilt“.
In diesem Sinn gründete Gülen außer Schulen, Nachhilfekursen und Privatuniversitäten bald auch zahlreiche Unternehmen. Zu diesen zählten neben Zeitungen wie dem Tagblatt Zaman (Zeit), Agenturen und TV-Sendern vor allem die Bank Asya, Versicherungen, ein Unternehmerverband sowie Gewerkschaften. Unter den 120 jetzt von Erdogan enteigneten Hizmet-Firmen befand sich zuletzt im Oktober sogar eine Möbelfabrik.
Besonders eng war Gülen Mitte der 1990er Jahre mit dem Oberbürgermeister von Istanbul verbunden, der kein anderer als Erdogan war. Die Hizmet-Bewegung unterstützte dessen Ambitionen für einen Sprung an die Regierungspitze in Ankara, Erdogan machte ihr viele Konzessionen bei Schul- und Firmengründungen in der alten Sultansresidenz. So verlegte auch Gülen seinen Hauptsitz nach dem Viertel Üsküdar am asiatischen Ufer des Bosporus. Gemeinsamer Nenner von beiden war ein allumfassender, auch politischer Islam. In dessen Namen wagte sich Erdogan zu weit vor, wurde 1998 zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslänglichem Politikverbot verurteilt. Darauf übersiedelte Fethullah Gülen in die USA, offiziell, um den internationalen Charakter seiner Organisation zu betonen. Er sieht diese als „weltweite islamische Bildungsbewegung“.
In der Türkei blieb Gülen weiter einflussreich. Er riet Erdogan, seine islamistischen Ambitionen zu verschleiern. So konnte dieser die Aufhebung des Betätigungsverbots erreichen und 2003 als türkischer Ministerpräsident sein Wunschziel erreichen. Auch Gülen war nun auf der Höhe seines Einflusses. Auf die Dauer entzog sich aber der Musterschüler seiner mäßigenden Bevormundung. Erdogan fand in dem radikalen Islamisten Ibrahim Kalin einen neuen Ideologen, der mehr nach seinem Sinn war.
Mit dem Aufstieg Kalins begann Gülens Abstieg. Als sein Rivale 2009 außenpolitischer Berater Erdogans wurde, drehte in Ankara der bisher prowestliche Kurs in panislamische Richtung. Gülen verlor im türkischen Machtzentrum an Boden. Zum offenen Bruch mit Erdogan kam es im Dezember 2013, als Hizmet nahestehende Polizeispitzen einem Korruptionssumpf in Erdogans Regierung und Familie auf die Spur kamen. Der Ministerpräsident sprach von einer Gülenistenverschwörung. Von da war es dann nur mehr ein Schritt, Hizmet im letzten Sommer auch die Schuld an dem Umsturzversuch zuzuschieben.
Das Erdogan-Sprachrohr „Sabah“ (Der Morgen) veröffentlichte unlängst Erinnerungen von Gülens frühem Weggefährten Nurettin Veren. Darin wurden die Anfänge der Bewegung durchaus positiv geschildert. Den weiteren Weg vom Hilfswerk zum „Terrorkult FETÖ“, wie die jetzige Sprachregelung des Erdogan-Regimes lautet, schildert Veren so: Gülen habe zugelassen, dass sein Schulwerk im ehemaligen Ostblock von CIA-Agenten durchsetzt wurde. Von daher seine guten Beziehungen zum US-Geheimdienst und daher auch seine spätere Übersiedlung in die USA.
Breit ausgewalzt hat diese Vorwürfe inzwischen der auf Verschwörungs-Theorien spezialisierte Kopp-Verlag in Rottenburg am Neckar. Unter dem Titel „Das Gülen-Netzwerk – Eine CIA-Kreation zur besseren Kontrolle der islamischen Welt“ wird auf Deutsch so ziemlich alles aufgelistet, was Erdogan seinem einstigen Mentor heute vorzuwerfen weiß. Er scheint sich nicht des Widerspruchs bewusst zu sein, dass er diesen einerseits zum US-Agenten stempelt, doch andererseits von den USA seine Auslieferung fordert!
Wer Gülen schon näher aus der Zeit kennt, als er noch in der Türkei am Bosporus lebte, kann ihn nicht für den Drahtzieher von allem und jedem halten, was ihm jetzt von Erdogan vorgeworfen wird. Dem Schüler des kurdischen Mystikers Said Nursi ist wohl anzukreiden, dass er dessen Lehre zu stark in Richtung eines Volksislam mit modernistischem Anstrich verwässert hat. Dazu war er mit Schaffung von raiffeisenähnlichen Islambanken, Medienkonzernen in Form von Pressvereinen und einem enormen Privatschulwesen – sie alle wurden ihm von Erdogan in den letzten drei Jahren weggenommen – ein überaus tüchtiger Unternehmer. Verschwörer und Umstürzler – das passt einfach nicht zu Fethullah Gülen, der sich aber ebenso wenig von Erdogans heutiger Staatsraison vereinnahmen lässt. Seine Stärke ist – wie schon die des Said Nursi – der gewaltlose Widerstand. Doch neben Anhängern einer laizistischen Türkei, wie sie Kemal Atatürk in den 1920er und 1930er Jahren begründet hatte, waren letzten Sommer am Militärputsch zum Sturz von Erdogan gewiss auch Mitglieder der Organisation Gülens und Sympathisanten beteiligt: „Die Gülenisten haben den Putschversuch vielleicht angestoßen, aber es waren sehr viele andere Generäle beteiligt. Von vielen Verhafteten ist bekannt, das sie hartgesottene Kemalisten sind“, urteilt der britische Türkei-Experte Gareth Jenkins.
πηγή ΤΤ