Von Heinz Gstrein
Istanbul. Nächstes Jahr zu Pfingsten nach dem alten Kirchenkalender, d.h. ab 19. Juni 2016, wird in der Konstantinopler Irenenkirche das griechisch-orthodoxe Konzil seinen Anfang nehmen. Der erste Schritt dazu ist bereits abgeschlossen: Zwischen Oktober 2014 und Anfang April 2015 hat eine Sonderkommission die zum Teil noch aus den frühen 1980er Jahren stammenden Konzilsvorlagen aktuell überarbeitet. An den Ergebnissen sind positive Weiterentwicklungen in der orthodoxen Kirchenfamilie festzustellen. Nur in Sachen Ökumene gibt es einen Rückschritt den reformatorischen Christen gegenüber. Ihnen wird allzu weitgehende „Liberalisierung“ in Sachen Kirchenordnung und christlicher Ethik angelastet. Nachdem auch eine „Redaktionskommission“ unter Vorsitz des montenegrinischen Metropoliten Amfilohije Radovic ihre Arbeiten abgeschlossen hat, steht als nächstes im kommenden Herbst eine „Präsynodale Panorthodoxe Konferenz“ auf dem Programm.
Diese „Heilige und Große Synode der Orthodoxie“ lässt sich in ihrer gesamtchristlichen Bedeutung schon im voraus mit dem II. Vatikanum vergleichen. Ihre Vorbereitung hatte parallel zu dessen Einberufung in kongenialem Zusammenwirken zwischen Papst Johannes XXIII. und dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. begonnen. Der orthodoxe Konzilsplan als solcher ist aber viel älter. Angefangen mit den diesbezüglichen Enzykliken des Ökumenischen Patriarchen Joachim III. von 1902 und 1904 und besonders mit der Panorthodoxen Konferenz von 1923. Diese hatte eindeutig Reformcharakter, nachdem sich besonders die orthodoxe Geistlichkeit in Griechenland und Serbien gegen das ihr auferlegte Verbot einer Eheschließung nach der Weihe und den Zwang zu mittelalterlicher Haartracht und Kleidung aufgelehnt hatte. In Konstantinopel wurde der Verband „Anagennesis“ (Wiedergeburt) gegründet. Sein gleichnamiges Organ forderte eine radikale Modernisierung des zuletzt vor über 1000 Jahren nach dem Vorbild der byzantinischen Klöster gestalteten gesamten kirchlichen Lebens.
Darauf berief Patriarch Meletios IV. Metaxakis (1922-1923) an seine Residenz im Phanar am Goldenen Horn eine Reformkonferenz ein. An ihr nahmen außer seiner eigenen die Kirchen von Russland, Rumänien, Serbien, Griechenland und Zypern teil, um „sich über dringenden Fragen der Zeit zu beraten, welche die Ordnung der orthodoxe Kirche in ihrer Gesamtheit betreffen.“
Metropolit Serapheim Iakovou, Delegierter des Patriarchats von Alexandria und ganz Afrika beim Genfer Weltkirchenrat (ÖRK) und der EU in Brüssel, beschäftigt sich in einer eben erschienenen Untersuchung mit der Bedeutung dieser Konstantinopler Konferenz für das kommende Konzil. Im Unterschied zum konservativen „neuorthodoxen“ Theologen Justin Popovic (1894-1979), den die serbische Kirche inzwischen sogar heiliggesprochen hat, wertet der aus Zypern stammende Iakovou Patriarch Meletios IV. nicht als „selbstherrlichen Modernisten und Stifter der Zwietracht in der Orthodoxie“, sondern sieht in ihm einen Wegbereiter zur „Heiligen und Großen Synode“. Zwar haben die widrigen politischen Umstände der damaligen Zeit (Bolschewismus, Vertreibung fast aller Orthodoxen aus der Türkei) eine Rezeption der Beschlüsse von 1923 mit einziger Ausnahme der „neojulianischen“ (bewegliche Feste weiter nach dem alten „Stil“, aber „festes“ Kirchenjahr gregorianisch) Kalenderreform verhindert. Doch erblickt Metropolit Serapheim gerade in der damaligen Aufhebung der Wirksamkeit höherer Weihen als Ehehindernis ein Postulat für das Konzil von 2016 und fragt sich: „Ist es darüber hinaus nicht an der Zeit, dass die Allorthodoxe Synode die altchristliche Kirchenordnung wieder herstellt, auch verheiratete Geistliche ins Bischofsamt zu wählen und bereits zölibatären Bischöfen das Ehesakrament nicht zu verweigern? Ich glaube, dass für diese wichtigen Anliegen keinerlei dogmatisches, theologisches oder moralisches Hindernis besteht!“
Nach fast vierzigjähriger Unterbrechung der orthodoxen Konzilspläne – von einer Konsultation 1930 am Berg Athos abgesehen – gaben erst die römisch-katholischen Vorbereitungen auf das II. Vatikanum wieder Anstoß zu parallelen Bemühungen. Die I. Panorthodoxe Konferenz auf der Insel Rhodos erstellte 1961 eine Liste von gleich 100 Themen, mit denen sich eine Große Synode beschäftigen sollte. Grundsätzlich wurde dieses Ostkirchen-Konzil dann 1963/64 ebenfalls auf Rhodos als „Ausdruck der Einheit im Zeugnis der Orthodoxie angesichts der Probleme unserer Zeit und in ihren Beziehungen zur Gesamtheit der christlichen Welt“ definiert. Was fast genau dem Selbstverständnis des II. Vatikanischen Konzils entsprach. Darauf weist besonders der katholische Orthodoxie-Fachmann Nikolaus Wyrwoll hin.
Zwischen 1976 und 1986 strafften dann drei gesamtorthodoxe „Vorkonziliare Konferenzen“ die ursprünglich zehnmal so vielen Diskussionspunkte auf die folgenden Beschlussvorlagen:
- Die orthodoxe Diaspora 2. Die Autokephalie (kirchliche Selbständigkeit) und die Art ihrer
Proklamation 3. Die Autonomie (kirchliche Selbstverwaltung im Rahmen einer
Autokephalkirche) und die Art ihrer Proklamation 4. Die Diptycha (Rangordnung der orthodoxen Kirchenoberhäupter) 5. Die Frage des Kirchenkalenders und das Osterdatum 6. Die Ehehindernisse 7. Die Anpassung der Fastenvorschriften
- Die Haltung der orthodoxen Kirchen gegenüber der übrigen
christlichen Welt
- Die Orthodoxie und die Ökumenische Bewegung
- Der Beitrag der orthodoxen Kirchen zur Durchsetzung der christlichen Ideen des Friedens, der Freiheit, der Geschwisterlichkeit und der Liebe zwischen den Völkern und die Überwindung der Rassendiskriminierung.
Bei der jetzigen Revision dieser Vorlagen ergaben sich – abgesehen von dem schon erwähnten ökumenischen Zurückkrebsen den evangelischen Christen, Anglikanern und Altkatholiken gegenüber –
noch folgende Neufassungen und Umstellungen: Die ersten vier Konzilsthemen wurden zu einem einzigen ekklesiologischen „Schema“ zusammengezogen. Dafür wird sich wahrscheinlich bis 2016 kein einvernehmlicher Entschließungsantrag erstellen lassen. Zu unterschiedlich sind zwischen Konstantinopel und Moskau die Auffassungen von der Rolle des Ökumenischen Patriarchen als eines Koordinators und Sprechers oder nur Ehrenvorsitzenden der griechisch-orthodoxen Kirchenfamilie. Die russische Kirche will ihm auch das Recht auf die Bildung neuer autokephaler und autonomer Kirchen absprechen und dieses der jeweiligen Mutterkirche zuerkennen. Wie sie das bereits mit der Verselbständigung der „Orthodoxen Kirche von Amerika“ im Alleingang für sich in Anspruch genommen hat. Strittig auch die bisherige Reihenfolge im Rang der orthodoxen Patriarchate und autokephalen Kirchen. Zumindest Zyperns im ganzen Mittelmeerraum und in der Afrikamission aufstrebende Orthodoxie möchte von ihrem 10. Platz vor die erst neuzeitlichen Patriarchen Osteuropas und des Balkans gleich hinter Jerusalem an die 5. Stelle gereiht werden. Dazu gibt es Tendenzen, die ganze historisch entstandene Rangordnung nach der Stärke an Gläubigen umzubauen. Das würde Moskau zum Primas machen und das bisherige „Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel unter „ferner liefen“ bei den Kleinkirchen ansiedeln. Diese Absicht hatte sich zum ersten Mal 1966 bei der Theologischen Konferenz von Belgrad manifestiert.
Die drei Konzilsvorlagen zum Kirchenkalender, den Ehehindernissen und Erleichterungen beim bisher der ganzen Gemeinde auferlegten klösterlichen Fasten wurden unverändert in ihrer Fassung von 1982 belassen. Mischehen gelten grundsätzlich weiter als unzulässig, können aber im Einzelfall mit Dispens (Oikonomia) geschlossen werden.
Zu einem Text hat die Sonderkommission bei ihrer Session Anfang Oktober 1914 auch die alten zwei Entschließungsanträge über die Haltung zu den anderen Christen und speziell zur Ökumenischen Bewegung zusammengefasst. Ausdrücklich bejaht werden darin jetzt die theologischen Dialoge mit andersgläubigen Christen, kritisch hingegen die Haltung zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und der Europäischen Kirchenkonferenz (KEK). So teilt jedenfalls der rumänische „Konzilstheologe“ Viorel Ionita mit. Tatsächlich haben einige orthodoxe Kirchen dem ÖRK bzw. der KEK bereits den Rücken gekehrt.
Auf der „Heiligen und Großen Synode der Orthodoxie“ wird es also in erster Linie um kirchliches Selbstverständnis und Kirchenstruktur gehen, wie das ebenso im Katholizismus beim I. und weitgehend auch beim II. Vatikanischen Konzil der Fall war. Was unter den Vorlagen fehlt, ist das Anliegen einer orthodoxen Liturgiereform. Schon längst wird von der Basis eine Straffung und Verinnerlichung der überlangen, mit hohlen Phrasen und Texten überfrachteten Gottesdienste klösterlicher Herkunft für ein lebendiges liturgisches Leben der Gemeinden gefordert. Bisher zeichnen sich auch keine Persönlichkeiten ab, die mit dieser wichtigen Frage auf dem Konzil vorpreschen könnten.
Um Vorbereitung und Zustandekommen der Großen Synode haben sich neben dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. und dem russischen Metropoliten Hilarion Alfejev von Volokalamsk vor allem der Konstantinopler „Cheftheologe“ Metropolit Ioannis Zizioulas von Pergamon und am Ständigen Konzilssekretariat in Chambésy bei Genf der Schweizer Metropolit Jeremias Kaligiorgis, Erzpriester Georgios Tsetsis und Prof. Vlasios Pheidas verdient gemacht. An die Seite dieser „alten Männer“ des orthodoxen Konzilsgedankens – für Hauptwegbereiter Metropolit Damaskinos Papandreou haben die Vorbereitungen zu lang gedauert, um die Synode selbst erleben zu können – sind zuletzt „junge“ Bischöfe und Theologen getreten. So aus Griechenland Metropolit Chrysostomos Savvatos von Messenien, der rumänische Ökumeniker Metropolit Nifon Mihaita von Targoviste, Metropolit Sotirios Athanasoulas von Toronto, der schon erwähnte alexandrinische Metropolit Serapheim Iakovou u.a. Als eine Art orthodoxe Konzilstheologen wie einst Karl Rahner beim II. Vatikanum haben sich aus Moskau Erzpriester Nikolaj Balaschov, der schon erwähnte Viorel Ionita und besonders vom Ökumenischen Patriarchat Erzdiakon John Chryssavghis aus den USA profiliert.
Zur Teilnahme an der „Großen Synode“ sind nicht etwa alle griechisch-orthodoxen Bischöfe aufgerufen, wie das bei den Allgemeinen Kirchenversammlungen des ersten christlichen Jahrtausends oder dann katholischerseits zuletzt beim I. und II. Vatikanum der Fall war: Jedes der 14 – und vielleicht bis 2016 mit einer autokephalen makedonischen Orthodoxie 15 – Glieder der orthodoxen Kirchenfamilie wird durch maximal 24 Konzilsväter vertreten sein. Kleine orthodoxe Kirchen wie jene von Albanien, Polen oder von Tschechien und der Slowakei bleiben unter dieser Teilnahmebeschränkung und werden alle ihre Bischöfe nach Istanbul entsenden. Die orthodoxen Großkirchen der Patriarchate von Konstantinopel, Moskau oder Bukarest können aber nur mit einem Bruchteil ihres Episkopats an der Synode teilnehmen. Insgesamt werden sich in der Irenenkirche am 19. Juni 2016 um die 300 orthodoxe Bischöfe versammeln. Das sind doppelt so viele, als in derselben 381 am I. Konzil von Konstantinopel teilgenommen hatten. Mehr hätten in dem nicht allzu großen Gotteshaus auch nicht Platz. Insgesamt gibt es heute um die 850 griechisch-orthodoxe Bischöfe.
Da nicht jeder Bischof, sondern nur jede Kirche auf diesem orthodoxen Konzil eine Stimme haben wird und zusätzlich alle Beschlüsse einstimmig erfolgen müssen, sind einer frei beweglichen Meinungs- und Mehrheitsbildung von vornherein enge Grenzen gesetzt. Damit werden in der Irenenkirche überraschende Wortmeldungen und Anträge jedoch genauso wenig ausgeschlossen wie seinerzeit ein Kardinal Afredo Ottaviani das Ausbrechen des II. Vatikanums aus den von ihm und seinem Kreis vorbereiteten „Konzils-Schemata“ verhindern konnte. Genug Zündstoff dafür dürfte vorhanden sein, gerade auf dem Gebiet der Sexualmoral, wie schon ein überaus heftiger vorkonziliärer Schlagabtausch in Sachen außerehelicher und gleichgeschlechtlicher Beziehungen gezeigt hat (öki 12 vom 17.3. und 19 vom 5.5.2015).
Die Unausweichlichkeit dieser Thematik, die nicht wegdementiert werden kann, ist auch in der Orthodoxie längst bewusst. Schon zur Zeit des II. Vatikanums trat der 1948 zugunsten von Athenagoras I. zurückgetretene Ökumenische Patriarch Maximos V. Vaportzis (1897-1972) für eine Liberalisierung der kirchlichen Lehre zur Sexualität ein: „Haben wir nicht das Recht zu fragen, ob gewisse Einstellungen nicht das Produkt veralteter Ideen und vielleicht einer Junggesellenpsychose von Menschen sind, die mit diesem Teilbereich des Lebens nicht vertraut sind?“
Maximos V. warnte vor Missachtung der Klugheit, einer Kardinaltugend, an der alle Moral zu messen sei. Er sah die Kluft zwischen der offiziellen Kirchenlehre und der gegenteiligen Praxis der überwältigenden Mehrheit christlicher Paare und bedauerte, dass „die Gläubigen sich gezwungen sähen, in Konflikt mit dem Gesetz der Kirche zu leben, abgeschnitten von deren Sakramenten.“